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Armin Medosch: Mythos Kunst (Teil 6): Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen

Die Sechshauserstraße in Wien an einem frühen Abend im späten November. Trotz fortschreitender Gentrifizierung befindet sich an jedem zweiten Eingang ein Schild auf dem »Studio« oder »Models« zu lesen ist, mit rot blinkenden »Open« Leuchtschildern. Vor einem Gassenlokal mit großer Scheibe hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Obwohl die Scheiben stark beschlagen sind, kann man von draußen gut die Ereignisse in dem Lokal beobachten. Junge Menschen, weiß und eher gering bekleidet, führen so etwas wie akrobatische Übungen auf. Rotes Mus wird auf nackte Haut gegossen, rinnt herunter, über Bauch, Rücken, Po. Immer verwegener werden die Posen, immer weniger Textil auf der Haut der Akteur_innen, immer heftiger rinnt der rote Brei, wird von Fingern aufgefangen, mit der Zunge geleckt. Draußen auf der Straße hält ein Mann seinem etwa 12 Jahre alten Sohn die Augen zu: »Nicht hinschauen, Burli.« Doch schon im nächsten Moment zieht er die Hand wieder weg und sagt: »Ah, is eh nur Kunst.«

Die Unterscheidung »ist eh nur Kunst« ist ein Zeichen dafür, dass wir uns in der Post-Art-Gesellschaft befinden. Jede/r ist in der Lage, diese Entscheidung zu treffen, auch der sprichwörtliche »Mann von der Straße«, wobei es sich im Fall der Sechshauserstraße um eine sehr diverse Crowd handelt. Die zeitgenössische Kunst hat seit den späten 1960er, frühen 1970er Jahren einen phänomenalen Siegeszug erlebt. In den 1970er Jahren wurde die zeitgenössische Kunst von den Boulevardmedien heftigst skandalisiert, wichtige Vertreter der Avantgarde sogar vom Justizsystem verfolgt. Doch auch der Skandal war der Verbreitung dieser neuen Form der Kunst, die wir zeitgenössisch nennen, dienlich. Zeitgenössische Kunst ist postkonzeptuelle Kunst, wie der englische Philosoph Peter Osborne schrieb. Sie ist Folge eines Paradigmenwechsels, der in den 1960er Jahren einsetzte und dazu führte, dass die zeitgenössische Kunst im Verlauf der 1990er Jahre als die dominante, diskursive Kunstform etabliert wurde, zeitgleich mit der Informationsgesellschaft. Es lässt sich eine Parallele ziehen, zwischen der Ablöse der Industrie- durch die Informationsgesellschaft und dem Paradigmenwechsel von der modernen zur zeitgenössischen Kunst. Auf der Basis dieser Transformationen entstand schließlich am Beginn des 21. Jahrhunderts die Post-Art und die Post-Art-Gesellschaft. Das ist eine Gesellschaft, in der zeitgenössische Kunst nicht nur universell akzeptiert ist, als unverzichtbarer Bestandteil einer komplexen postindustriellen Gesellschaft, sondern in der Kunst von einer Randposition ins Zentrum der Gesellschaft gerückt ist, so dass ihre Methoden, Zugänge, Denkweisen, Tropen und Stars tief in die Gesellschaft hinein verbreitet sind. Das heißt nicht, dass alle diese Kunst mögen oder im Detail verstehen, aber es bedeutet, dass man die Kunst erkennt, wenn man ihr begegnet, so wie der Mann vor dem Lokal auf der Sechshauserstraße.

Die Performance in der Sechshauserstraße war von der Gruppe Supergood. Diese wandeln auf dem schmalen Grad zwischen künstlerischer Aneignung kommerzieller Taktiken und der Inanspruchnahme von Kunst durch den Kommerz. Supergood ist ein Projekt von Lukas Heistinger und Bernhard Garnicnig, gemeinsam mit vielen anderen, wobei die Acai-Beere eine wichtige Rolle spielt. Die Acai-Beere gilt als Superfood, d.h. als besonders gesundes und stimulierendes Nahrungsmittel. Die Website von Supergood bewirbt das Superfood und spielt mit weiterführenden Assoziationen. Man soll durch den Genuss der Beeren sein »freies, besseres Ich« kennenlernen, man soll sich selbst »optimieren« verkünden photogeshoppte Jünglinge vor Tiroler Bergseen und tropischer, von Palmen gesäumter Bucht. Supergood spielt jedoch nicht nur mit dem Image einer Firma, sondern ist auch tatsächlich Importeur von Acai-Beeren-Mus von angeblich bester Qualität. Wer möchte, kann das Beeren-Mus über Supergood bestellen http://supergood.today/. Supergood arbeiten »produktiv die Ambiguitäten im Zwischenraum zwischen Produkt und Performance heraus,« wie es Mitbegründer Bernhard Garnicnig formuliert, und »lassen diese Spannung in einem ungelösten Konflikt oder Dissens stehen.« Supergood ist eben nicht nur »Kunstprojekt,« sondern auch ein »Cateringprojekt« und ein »politisches Marketingprojekt,« fügt Garnicnig hinzu. Langweilig würde es, sobald es auf die eine oder andere Seite kippt, wenn es sich als »eh nur Kunst« zu erkennen gäbe oder eine von vielen Superfood-Firmen wäre, die gerade aus dem postindustriellen Humus sprießen. Und genau auf Grund dieser unaufgelösten Spannung eignet sich das Projekt bestens als Beispiel für Post-Art.

Supergood verbinden geschickt verschiedene Stränge und Einflüsse der Kunst, von der Pop Art über den Situationismus und Aktionismus bis hin zur Appropriationskunst der 1980er Jahre. Zugleich verdeutlichen sie, inwiefern sich seit einiger Zeit Firmen am Methodenkanon der zeitgenössischen Kunst bedienen. Die heutige zeitgenössische Kunst ist ein Resultat der Wende von der Objekt-zentrierten modernen Kunst zur Kunst der Ideen, auch Konzeptkunst genannt, eine Wende, die Mitte der 1960er Jahre einsetzte. Da die Konzeptkunst keine Objekte mehr produzierte, operierte sie frühzeitig mit medialen Strategien, über Inserate und Fotostrecken in Zeitschriften, Plakate, Postkarten. Das wurde anfangs als anti-kommerzielle Entmaterialisierung der Kunst verstanden. Inzwischen zeigte sich hierin eine unheimliche Affinität zwischen Konzeptkunst und den Strategien des informationellen Kapitalismus. Diese Affinität erreichte einen frühen Höhepunkt mit der Ausstellung »Live in Your Head: When Attitudes Become Form« kuratiert von Harald Szeemann 1969 in der Kunsthalle Bern und gesponsert vom Tabakkonzern Philip Morris International. Ein weiteres bekanntes Beispiel bildet die Werbeagentur Saatchi and Saatchi, die seit den späten 1970er Jahren Methoden der zeitgenössischen Kunst einsetzte – und damit Margarete Thatcher zum Wahlsieg verhalf. Mitbegründer Charles Saatchi demonstrierte mit seiner Sammlertätigkeit die enge Affinität zwischen zeitgenössischer Kunst und postindustriellem Kapital. Ähnlich wie Saatchi unterstützte die Biermarke Becks frühzeitig die sogenannten YBAs (Young British Artists). Als solche werden eine lose Gruppe zeitgenössischer britischer Künstler bezeichnet, darunter u.a. Damian Hirst, Tracey Emin und die Chapman Brüder. Die YBAs verstanden es, durch gezielt eingesetzte Skandale die Medien und den Markt zu manipulieren und selbst zu einer Weltmarke in der Kunst zu werden.

Über die Jahrzehnte entwickelte sich ein eng geführter Paartanz – sagen wir, es sei ein Tango – zwischen zeitgenössischer Kunst und informationellem Kapital. Beiden gemeinsam ist die Fähigkeit, quasi aus nichts Wert zu erzeugen. Das Interesse der Unternehmen an zeitgenössischer Kunst hat wenig mit Werbung im engeren Sinn zu tun, sondern besteht darin, die Marke mit symbolischem Kapital – ein Begriff von Pierre Bourdieu – aufzuladen. Spätestens in den 1990er Jahren setzte sich die Ansicht durch, dass das Branding wichtiger für den kommerziellen Erfolg eines Produkts sei, als dessen Gebrauchswert. Deshalb wurde die Arbeit an der öffentlichen Wahrnehmung eines Produkts oder einer Marke immer wichtiger und eine spezialisierte Industrie, bestehend aus gehobenen Marketing Consultants, Brand Consultants, PR und Kommunikationsunternehmen entstand. Das Personal dieser Branche wiederum speist sich aus ehemaligen Kunst- und Media Studies Student_innen und bewegt sich im selben Milieu wie die Künstler_innen, wohnt in denselben Vierteln, geht in dieselben Bars.

Das Arbeitsfeld dieser Szene ist, was Wolfgang Fritz Haug schon in den 1970er Jahren die Warenästhetik nannte und was er später als »digitale Warenästhetik« aktualisierte. In Anlehnung an die Marxsche Kritik der Trennung von Gebrauchs- und Tauschwert argumentiert Haug, dass im modernen Kapitalismus der Fetischcharakter der Ware gezielt mit ästhetischen Mitteln überhöht wird. Das führt soweit, dass sich die Warenästhetik von der Ware ablöst und eine eigenständige Existenz annimmt. Die Ware, die mit künstlerisch verschönten »Liebesaugen winkt« (wie ein leicht abgewandeltes Marx-Zitat heißt), verführt die Kunden, indem sie verspricht, diese an ihrer Macht teilhaben zu lassen.1 Man kauft nicht nur ein Produkt, sondern kauft sich in ein Image ein, so dass auf das eigene Ich etwas vom Glanz der losgelösten »freien« Warenästhetik abfärbt.

Diese Entwicklungen wurde unzweifelhaft gefördert vom Aufstieg der Informations- und Kommunikationstechnologien, begleitet von wachsendem Wohlstand in den reichen ehemaligen Industriestaaten. Die Sättigung elementarer Bedürfnisse ermöglichte den Kindern der früheren Arbeiterklasse die Verfeinerung ihrer Konsumgewohnheiten, Moden, Vorlieben, kulturellen Genüsse. Diese wachsende Mittelschicht von überwiegend in »Informationsberufen« arbeitenden Menschen bildet die Kerngruppe der Post-Art-Interessierten. An diese wendet sich Supergood mit seinem Superfood: Mensch konsumiert nicht nur, sondern macht sich selbst besser, sozusagen von innen heraus, Molekül für Molekül.

Die Post-Art-Gesellschaft entstand zeitgleich mit der Informationsge-sellschaft und ist mit dieser intrinsisch verbunden. Die zentrale Triebfeder für die gesellschaftliche Dynamik resultiert aus dem bereits in Folge eins von Mythos Kunst skizzierten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Dieser Konflikt reproduziert sich als ein Konflikt zwischen manueller und intellektueller Arbeit, wobei in bürgerlichen Gesellschaften eine deutliche Präferenz für intellektuelle Arbeit besteht, was sich auch in den Hierarchien der Wissensproduktion und der Klassenstruktur der Gesellschaft abbildet: umso materieloser die Tätigkeit, desto höher ihr Ansehen. Die Arbeit des Managements, der Führungskräfte, das Spektrum der Aufgaben des bürokratischen Kapitalismus werden glorifiziert und besser bewertet als manuelle Arbeit. Die Entwicklung der Technologie selbst wurde und wird aus diesem Konflikt gespeist, indem Maschinen erfunden wurden, deren Zweck es nicht nur war, menschliche Arbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen, sondern auch die organisierte Arbeit durch Maschinenkonkurrenz zu schwächen.

Diese Tendenz erhielt jedoch seit den 1970er Jahren eine neue Note, als ein neuer Typ von Maschine, der Computer, nicht nur manuelle sondern auch geistige Arbeit zu ersetzen begann. Informationsgesellschaft bedeutet also auch die industrielle Ausbeutung der Information durch Software, verbunden mit dem Ersatz menschlicher geistiger Arbeit durch Informationsarbeit von Maschinen. Damit veränderte sich aber auch der Charakter der Ausbeutung: nicht mehr die Arbeitskraft des Menschen wird ausgebeutet, und die Menschen bleiben, wie sie sind, führen in der Freizeit ein autonomes Dasein, wie das im Industriekapitalismus der Fall war, sondern eben genau dieses Dasein, die biopolitische Existenz des Menschen, wird zum Ziel der Ausbeutung. Unter dem Konkurrenzdruck der Maschinenarbeit wird das Diktum von Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler sei, als negative Dialektik verwirklicht.

Post-Art verwirklicht den alten Traum der Avantgarde, die Schranke zwischen Kunst und Leben zu durchbrechen, kann das aber nur in einer Realität, die weitgehend von der Warenästhetik und der Logik, auf der diese beruht, durchdrungen ist. Deshalb wurde schon seit längerem die Ware, bzw. die Warenform zu einem zentralen Thema der Kunst. Schon die Pop Art hat die Grenzen zwischen Kunst und Warenwelt thematisiert, indem sie den Objektcharakter des Menschen ausstellte, ohne zu moralisieren. Das Entstehen einer verdinglichten Warenwelt, die alles andere verdrängt, der scheinhafte, »spektakuläre« Charakter des Spätkapitalismus – und potenzielle Wege zu dessen Überwindung – wurde von der Situationistischen Internationale (SI) formuliert. Diese Kritik mündete in das 1967 veröffentlichte Buch Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord. Seit den 1950er Jahren propagierte die SI Strategien zur künstlerischen Unterwanderung des Spektakels. Durch das sogenannte »Detournément« (was unzureichend als »Umlenkung« übersetzt werden kann) sollte existierenden intellektuellen Werken wie z.B. Comic Strips eine neue Bedeutung verliehen werden. In den 1960er Jahren nahm die SI immer mehr Abstand von jeglicher Kunstproduktion und verlegte sich auf die Erzeugung revolutionärer »Situationen«. Die Situationisten werden als eine der wesentlichen Inspirationen für den Pariser Mai von 1968 gesehen. Folgt man dem englischen Historiker und Politikwissenschaftler Richard Barbrook in seinem Buch Class Wargames2, ließ sich Malcolm McLaren, Mastermind der Punk Band Sex Pistols, vom britischen Zweig der SI inspirieren.

In den 1980er Jahren erhielten diese Techniken frischen Impetus aus dem Crossover von Underground-Pop-Kultur und Kunst. Die kanadische Konzept- und Medienkunstgruppe General Idea übernahm 1986 das berühmte Gemälde des Pop Künstlers Robert Indiana LOVE und ersetzte die Buchstaben durch AIDS. Die Appropriation, Aneignung, wurde eine der wichtigsten Techniken – im Sinn von künstlerischen Strategien – der Kunst im beginnenden Informationszeitalter. Eine andere Technik war die subversive Affirmation. Man gab vor, sich mit Inhalten aus dem gesellschaftlichen Mainstream zu identifizieren – etwa mit gängigen Klischees und Symbolen – tat es aber auf eine so übertriebene Art, dass es schließlich klar wurde, dass es darum ging, diese Klischees und Stereotypen zu demaskieren. Meister dieser »Überidentifikation«, wie es der slowenische Philosoph Slavoj Zizek nennt, sind die Neue Slowenische Kunst (NSK) mit ihrem Musikzweig Laibach und ihrem Kunstzweig Irwin. NSK verbanden die visuellen Versatzstücke des Soviet-Kommunismus mit Ikonen der konstruktivistischen Kunst wie dem Schwarzen Quadrat (1915) von Vladimir Malewitsch und mischten es mit Bildern und Geweihen aus der schönen slowenischen Bergwelt. Das Resultat ist einerseits eine unaufgelöste und schwer erträgliche Spannung zwischen linkem und rechten Totalitarismus, und damit zugleich eine Kritik und Dekonstruktion des totalitären Gehalts der sozialistischen Ideologie ebenso wie der Utopismen der historischen Avantgarden. Die hauseigene Band Laibach wiederum fokussierte auf den totalitären Gehalt des Konsumkapitalismus und der Unterhaltungsindustrie – nicht indem sie diese »kritisierten«, sondern bis ins Unerträgliche überhöhten.

Die Aneignung von Methoden und Taktiken der Avantgarde durch die Pop-Underground-Kultur – zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Rap-Gruppe Public Enemy – trug möglicherweise mehr zu einer Verbreitung einer Post-Art-Mentalität in der Bevölkerung bei als die Kunst selbst. Die Begeisterung für Branding kulminierte, wie bereits erwähnt, in den 1990er Jahren. Konzerne nahmen die Methoden der Kunst in Anspruch und nutzten Szenewissen um in noch so kleine Nischen und Subkulturen einzudringen, davon ausgehend, dass die kritischen Geister des heutigen Underground die Opinion Leader von morgen sein würden. »Coole« Marken wie Rizla, Becks, Adidas oder Nike drängten in die Rave-Szene, unterstützten Graffiti und Break Dance. Das kann durchaus positiv gelesen werden, als ein Abbau der Schranken zwischen Hoch- und Populärkultur und als ein Aufbrechen der Mauern des Museumskunstbetriebs, wo Kunst typischerweise in einem White Cube (weißen Würfel) eingesperrt ist.

Im Zuge desselben Prozesses, einer Ästhetisierung der Warenwelt, kam es zur gesellschaftlichen Verallgemeinerung ehemaliger Avantgarde-Kulturtechniken. Verallgemeinerung heißt hier, dass Appropriation und Detournément in einer allgemeinen Remix-Kultur aufgegangen sind. Das war spätestens dann der Fall, als die ersten Ravermeister T-Shirts aufgetaucht sind. Die Avantgarde verlor ihren priviligierten Zugang zu den Methoden der Montage, des Cut-up und Remix, was nicht ganz ohne Niveauverlust geschah. Die zunehmende Verbreitung digitaler und elektronischer Medien – Internet, Laptops, Sampler, Digitalkameras – trug ein ihriges dazu bei, dass immer mehr Menschen sich aktiv an der Remix-Kultur zu beteiligen begannen. Wie Felix Stalder in seinem kürzlich erschienenen Buch Kultur der Digitalität (Suhrkamp, 2016) argumentiert, wurden Remix und Referenzialität – das Herstellen von Bezügen – zu den bestimmenden Kulturtechniken im Digitalzeitalter. Damit einher ging eine enorme Ausweitung des Kreises jener, die nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Sprechende an Kultur teilnehmen, von Frauen angefangen über verschiedene Ethnien, Klassen, Bildungsschichten, Menschen mit diversen sexuellen Orientierungen usw.

Diese Verbreiterung der kulturellen Basis der Teilhabe wird jedoch konterkariert durch einen weiteren Prozess, wobei Kreativität zum neuen kapitalistischen Imperativ gemacht wurde. In den späten 1990er Jahren begann der in Paris lebende, italienische Neo-Marxist Maurizio Lazzarato von der immateriellen Arbeit zu sprechen. Im informationellen Kapitalismus, bekamen Fähigkeiten und Eigenschaften wie Kommunikationsfreude, Teamfähigkeit, Flexibilität eine neue Bedeutung im Wirtschaftsleben. Eigenschaften, die früher mit Kunst und Künstler_innen assoziiert wurden, rückten ins Zentrum des gesellschaftlichen Interesses. Das reicht bis in die großen programmatischen Schriften der EU, den Vertrag von Lissabon und das Nachfolgewerk, die Agenda 2020 und an diese anknüpfenden Strategiepapiere, die »den Künstler« mit Kreativität assoziieren und letztere primär als dringend benötigten Treibstoff für die Wirtschaft sehen. In den seit längerem nur mehr schwach wachsenden Volkswirtschaften der ehemaligen Industrieländer erhofft man sich von Kunst und Kultur Impulse für die Produktinnovation. Auch wenn die Assoziation von Kreativität mit Kunst auf falschen Voraussetzungen beruht und ein gravierendes Missverständnis seitens der EU-Strategen darstellt, dokumentiert es, dass die Kunst von einem elitären Randphänomen ins Zentrum des gesellschaftlichen Interesses gerückt ist.

Der Mythos Kunst hat gesiegt. Methoden, Zugänge, Fragestellungen, Taktiken, die zunächst von zeitgenössischen Künstler_innen entwickelt worden waren, sind nun in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Das bedeutet aber gerade nicht, dass jeder Mensch ein Künstler geworden sei, sondern im Gegenteil, hat bewirkt, dass erstens der Mythos vom Künstler eine unerwartete Wiederauferstehung feierte, und zweitens dass der Beruf Künstler nun noch elitärer geworden ist.

Die zeitgenössische Kunst beruhte seit den 1970er Jahren auf dem Prinzip der Institutionskritik. Die Kritik der Institution Kunst, hier verstanden als moderne Kunst, ihrer Ein- und Ausschlussmechanismen, Subjektposi-tionen, Konventionen der Bedeutungsbildung wurden hinterfragt und bloßgelegt, woraus die Kunst auch ihre politische Brisanz bezog. In einer Zeit der sich ausdehnenden digitalen Warenästhetik konnte sich die zeitgenössische Kunst einen Freiraum schaffen und erhalten. Das ermöglichte einem bestimmten, sehr politischen Zweig der zeitgenössischen Kunst, frühzeitig die Aufmerksamkeit auf vernachlässigte Themen wie z.B. Gender und Migration zu lenken. Das ging einher mit einer stärkeren Theoretisierung der Kunst. Die Hochphase dieser Bewegung waren die 1990er Jahre. Als wichtiger Markierungspunkt lässt sich die documenta x, kuratiert von Catherine David anführen. Im selben Zeitraum wurde die zeitgenössische Kunst tatsächlich global. Durch neue Biennalen und neue Kurator_innen kamen Menschen aus postkolonialen Regionen in den Kunstbetrieb und konnten sich dort dauerhaft etablieren. Als Markierungspunkt für diese Tendenz mag die documenta 11, kuratiert von Okwei Enwezor, gelten. Die zeitgenössische Kunst nahm wichtige Impulse aus einem erweiterten postkolonialen Feld auf.

Doch der »Sieg« der zeitgenössischen Kunst erwies sich als Pyrrhussieg. Die Kunst der Institutionskritik musste, um ihre Autonomie zu bewahren, das Terrain der Gesellschaft aufgeben und sich ins Museum zurückziehen, um überleben zu können. Damit kam ihr jedoch der Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit, den sie seit den 1960er Jahren erhoben hatte, abhanden. Inzwischen hat sich ein Unbehagen an der Kritik als solcher ausgebreitet.3 Der Tango zwischen zeitgenössischer Kunst und informationellem Kapitalismus hat sich eine Runde weiter gedreht. Der spektakuläre Kapitalismus hat einmal mehr seine aalglatte Absorptionsfähigkeit bewiesen. Jedes noch so politische Kunstwerk ist nicht davor gefeit, in die Kreisläufe spekulativer Wertschöpfung eingespeist zu werden. Wie der englische Kunsttheoretiker Suhail Malik anmerkte, ist es unmöglich, dieser Dynamik zu entrinnen.4 Die zeitgenössische Kunst hat daher wieder einen stark akademischen Charakter angenommen. Künstlerische Forschung ist angesagt. Häufig besteht diese in einer Suche nach Vorbildern. Dabei geht es nicht um bestimmte Stile oder Genres, und auch nicht, wie in der Ära des Postmodernismus, um das Zitat, sondern darum, vergangene Kunstproduktion als erweiterte Legitimationsgrundlage zu nutzen.5 Das kann durchaus spannend sein, entzieht sich aber der Rezeption, wenn einem die Quellen nicht bekannt sind. Es wird zu einer Kunst über Kunst über Kunst … Nicht zuletzt führt es dazu, dass die zeitgenössische Kunst in einer Endlosschleife des ewig Neuen stecken geblieben ist. Passend zu dieser Re-Akademisierung der Kunst als ein Zweig der Wissensproduktion ist es inzwischen wieder so, dass es für den Einstieg in die Kunstszene nicht nur von Vorteil ist, reiche Eltern zu haben, sondern am besten reiche – oder zumindest wohlhabende Eltern – die selbst Künstler sind. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie sind 30% der jetzt aktiven Künstler_innen im Großraum New York selbst Kinder von Künstler_innen oder im Kunstbetrieb anderweitig tätigen Menschen.

Doch nicht nur der Tango zwischen zeitgenössischer Kunst und informationellem Kapital hat sich eine Runde weiter bewegt, das Kapital selbst hat dabei seine Gestalt verändert. Die Prozesse der Digitalisierung, Globalisierung und Transkulturalisierung haben starke Gegenkräfte auf den Plan gerufen (Rechtspopulismus, Regionalisierung, Fundamenta-lismen). Zugleich ist die zentrale Triebfeder der wissenschaftlich, technischen Entwicklung ungebrochen. Die Automatisierung auf allen Ebenen erreicht neue Höhepunkte, in der Industrie, der Robotik, der Software, auf den Finanzmärkten. Neue Synthesen zwischen Informationstechnik und Biologie lassen die Erschaffung künstlicher Lebewesen als realistisch erscheinen. Dabei geht es nicht mehr darum, Schafe zu klonen, sondern künstliche Mikrolebewesen zu erzeugen, Bakterienfabriken, die dann wiederum Proteine und Enzyme erzeugen, die völlig neue industrielle Prozesse ermöglichen, ob in der Medizin, Nahrungsmittelindustrie oder Energiegewinnung.

Die sogenannte Finanzkrise von 2008 erwies sich nicht nur als eine der wiederkehrenden, zyklischen Krisen des Kapitalismus, sondern als tiefer gehende, strukturelle Krise, die noch lange nicht überwunden ist. Die Weltsystemtheorie spricht von einer Bifurkation: das Weltsystem hat derzeit keine eindeutige Richtung eingeschlagen, sondern oszilliert zwischen Extremen. Alles erscheint möglich, globaler Klima-Meltdown, neuer Autoritarismus und Tyrannei, aber auch Commons-gestützte alternative Wirtschaftsformen, kritischer Regionalismus, digitale Alternativwährungen. Der australische Theoretiker und Art & Language Konzept-künster Terry Smith spricht in diesem Zusammenhang davon, dass all diese widersprüchlichen Bewegungen sich unter Umständen gar nicht mehr in ein Weltsystem zusammenfügen lassen, sondern engl. »incommensurable« sind, nicht auf gemeinsame Standards oder Bewertungssysteme rückführbar.

Doch auch wenn diese Analyse eher pessimistisch klingen mag, so verleiht sie auch Hoffnung auf einen echten Neuanfang. Post-Art hat viele Gesichter und ist möglicherweise eine Zwischenphase, aus der Neues entsteht. Entstanden während der Stagnation der 2010er Jahre,
ist es Ausdruck einer Pattstellung, die den vielen derzeitigen Dilemmas entspricht. Ob Kunst oder etwas anderes. Die Frage ist, kann das Weltsystem das Zwangskorsett des informationellen Kapitalismus abstreifen und ein neues, tragfähiges Modell entstehen? Erst dann kann es auch wieder eine neue Kunst geben, die aus der Endlosschleife des Zeitgenössischseins ausbricht.

[1] Siehe hierzu auch »Falsche Freunde im Web 2.0 – Die Weiterentwicklung des Warenfetisch in den Sozialen Netzwerken https://www.akweb.de/ak_s/ak542/21.htm
[2] Class Wargames kann online gelesen werden http://www.classwargames.net/
[3] Siehe z.B. Thomas Edlinger, Der wunde Punkt – Vom Unbehagen an der Kritik. Suhrkamp 2015
[4] Am Symposium »Curated by Vienna« 2015, kuratiert von Armen Arvenassian
[5] Forever Young, Suhail Malik http://artreview.com/features/jan_feb_2015_feature_forever_young/